Diskurs und Ökonomie – Teil 13: Industrie 4.0
Industrie 4.0 ist in aller Munde. Im 2013 verfassten Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0 ist zu lesen, dass „[w]ie kein anderes Land … Deutschland befähigt [ist], die Potenziale einer neuen Form der Industrialisierung zu erschließen: Industrie 4.0. Nach Mechanisierung, Elektrifizierung und Informatisierung der Industrie läutet der Einzug des Internets der Dinge und Dienste in die Fabrik eine 4. Industrielle Revolution ein“ (Promotorengruppe Kommunikation der Forschungsunion Wirtschaft – Wissenschaft (Hg.) (2013: Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0. Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0, S. 5. https://www.bmbf.de/files/Umsetzungsempfehlungen_Industrie4_0.pdf).
Die suggestive Kraft der Formel Industrie 4.0 liegt wohl in erster Linie in der Metaphorik begründet, welche interdiskursiv sich aus dem doch recht jungen Feld der Softwareentwicklung speist. Die Mechanisierung mit Wasser- und Dampfkraft retrospektiv als Industrie 1.0 und die Massenfertigung als Industrie 2.0 zu bezeichnen wäre eigentlich konsequent, würde gleichwohl seltsam anmuten. Die nächste industrielle Revolution erscheint als Update des Betriebssystems. Da Updates nicht immer reibungslos verlaufen, stellen sich hier natürlich eine Reihe von Herausforderungen. Nimmt man die Metaphorik ernst, bleibt dennoch das optimistische Bild eines gesellschaftlichen Voranschreitens bzw. Fortschritts (Fehler der alten Version wurden beseitigt, die Benutzeroberfläche wurde verbessert und ähnliches mehr) und einer recht geräuschlosen ‚Revolution‘.
Die Rede von der Industrie 4.0 lässt auch an eine erheblich ältere Diskussion zum Thema „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft“ auf dem Soziologentag im Jahr 1968 denken. Adornos Einleitungsvortrag nimmt diese damalige Kontroverse auf und konstatiert, dass diese „wesentlich eine über die Deutung“ sei (Adorno 1968, S. 356). In den „Kategorien der kritisch-dialektischen Theorie“ ist der Befund für Adorno recht eindeutig. So ist „die gegenwärtige Gesellschaft durchaus Industriegesellschaft … nach dem Stand der Produktivkräfte“ (S. 361). Zugleich „ist die Gesellschaft Kapitalismus in ihren Produktionsverhältnissen. […] Produziert wird heute wie ehedem um des Profits willen“ (ebd.).
Aus einer diskurskritischen Perspektive ist nun interessant, dass der „Terminus Industriegesellschaft“ suggeriert, dass „das Wesen der Gesellschaft geradenwegs aus dem Stand der Produktivkräfte, unabhängig von deren gesellschaftlichen Bedingungen“ folgt (ebd., S. 364). Übertragen auf den Diskurs über die Industrie 4.0 kann insofern gefragt werden, was dort eigentlich nicht thematisiert wird bzw. mit thematisiert werden sollte. Gleichwohl ist bezeichnend, dass der Diskurs nicht nur auf die Informatisierung der Fertigungstechnik abstellt, sondern mehr oder weniger alle drängenden Fragen, kurzum das ‚Wesen der Gesellschaft‘ gleich mit verhandelt. Industrie 4.0 erweist sich dann als der Universalschlüssel für die Lösung dieser Fragen:
„Industrie 4.0 leistet darüber hinaus einen Beitrag zur Bewältigung aktueller Herausforderungen wie Ressourcen- und Energieeffizienz, urbane Produktion und demografischer Wandel. Ressourcenproduktivität und -effizienz lassen sich in Industrie 4.0 fortlaufend und über das gesamte Wertschöpfungsnetzwerk hinweg verbessern. Arbeit kann demografie-sensibel und sozial gestaltet werden. Die Mitarbeiter können sich dank intelligenter Assistenzsysteme auf die kreativen, wertschöpfenden Tätigkeiten konzentrieren und werden von Routineaufgaben entlastet. Angesichts eines drohenden Fachkräftemangels kann auf diese Weise die Produktivität älterer Arbeitnehmer in einem längeren Arbeitsleben erhalten werden. Die flexible Arbeitsorganisation ermöglicht es den Mitarbeitern, Beruf und Privatleben sowie Weiterbildung besser miteinander zu kombinieren und erhöht die Work-Life-Balance.“ (Promotorengruppe Kommunikation der Forschungsunion Wirtschaft – Wissenschaft (Hg.) (2013): Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0. Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0, S. 5. https://www.bmbf.de/files/Umsetzungsempfehlungen_Industrie4_0.pdf).
Weitere Quellen:
Adorno, Theodor W. (1968): Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? In: Soziologische Schriften I. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 354-370.
Hier noch der obligatorische Verweis auf die bisherigen Beiträge in dieser Rubrik:
„Bei aller Wertschätzung für ihre tägliche Arbeit“, oder: Arbeitskämpfe als ‚diskursive Kämpfe‘
Schwan vs. Sinn, oder: in Verteidigung der Reinheit der Ökonomie