Diskurs und Ökonomie – Teil 16: Selber schuld! Das IW erklärt den Gender Pay Gap
In die aktuelle Debatte um ein „Lohngerechtigkeitsgesetz“ hat sich nun das Institut der deutschen Wirtschaft Köln zu Wort gemeldet und sieht keinen Handlungsbedarf des Staates. Die IW Studie basiert auf einer Analyse des SOEP (Sozio-Ökonomischen Panels). Die Analyse verweist wieder einmal darauf, dass Zahlen nicht für sich sprechen, sondern ihre Bedeutung erst in der diskursiven Bearbeitung und Auseinandersetzung erhalten. Zunächst zeigt die Analyse der SOEP-Daten nichts Überraschendes. In der Pressemitteilung des IW ist zu lesen:
„Ausschlaggebend für die Lohnhöhe sind unter anderem Faktoren wie Branche und Betriebsgröße. Bereits in früheren Studien hat das IW gezeigt, dass Frauen in Hochlohnbranchen unterrepräsentiert sind und tendenziell in kleineren Betrieben arbeiten. So sind gut drei Viertel aller Stellen in den – eher niedrig entlohnten – Bereichen Erziehung und Unterricht sowie im Gesundheits- und Sozialwesen von Frauen besetzt, im – eher hoch entlohnten – Verarbeitenden Gewerbe sind es weniger als drei von zehn. Zudem nehmen Frauen seltener Führungsaufgaben wahr und arbeiten häufiger in Teilzeit als Männer.“
Nun könnte eine Diskussion beginnen – für das IW ist diese aber bereits zu Ende und wir sehen eine diskursive Schließung, welche auf Grundbestände eines neoliberalen Staats- und Ökonomieverständnisses und eines damit verschränkten Verständnisses individuellen Handelns verweist:
„Um die Lohngerechtigkeit scheint es also nicht gut bestellt zu sein – oberflächlich betrachtet. Denn bei einer genaueren Analyse zeigt sich: Die Unterschiede beim Gehalt ergeben sich vor allem aus individuellen Entscheidungen.“
Und weiter:
„Die Entscheidungen über Karriere und Familie sind jedoch rein privat.“
Hier sehen wir die Konstruktion einer „autonomen“ Subjektivität, modelliert nach dem Bild des homo oeconomicus, welche etwa im Kontext der Gouvernementalitätsstudien als neoliberale Macht- und Selbsttechnologie kritisch diskutiert wird: „Da die Wahl der Handlungsoptionen als Ausdruck eines freien Willens erscheint, haben sich die Einzelnen die Folgen ihres Handelns selbst zuzurechnen.“ (Lemke et al. 2000: 30) Dies wird auch an einem letzten Zitat aus der IW Mitteilung deutlich:
„Werden diese und weitere Parameter berücksichtigt […] verkleinert sich die gesamtwirtschaftliche Lohnlücke in Deutschland auf rund 3,8 Prozent. Sie würde noch geringer ausfallen, wäre es möglich, unterschiedliches Verhalten in Gehaltsverhandlungen und abweichende Präferenzen zu berücksichtigen.“
Die Diagnose lautet also: „Selber schuld!“ Die sogenannte „individuelle Entscheidung“ markiert die Grenze dieser ökonomischen Betrachtung des Sozialen, da diese die finale Erklärung für gesellschaftliche Zusammenhänge liefert. Letztere werden dann erfolgreich atomisiert, oder wie schon Maggie Thatcher wusste: „There is no such thing as society, only individual men and women and their families.“ Warum sollte man sich als Ökonomie dann noch mit all den zahlreichen Studien auseinandersetzen, welche sich mit geschlechtsspezifischer Diskriminierung auseinandersetzen?
Quellen
Lemke, Thomas/Krasmann, Susanne/Bröckling, Ulrich (2000): Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung. In: Bröckling, Ulrich; Krasmann, Susanne; Lemke, Thomas (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.7-40.
Link zur IW Pressemitteilung: http://www.iwkoeln.de/presse/pressemitteilungen/beitrag/lohnluecke-der-staat-muss-nicht-handeln-286778
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