Diskurs und Ökonomie #20: Baudrillard zu Dieselgate, oder: Skandale als Simulation ökonomischer Moral
Die Affäre um manipulierte Abgaswerte beschäftigt die Öffentlichkeit mit wechselnder Aufmerksamkeit schon recht lange. Berechtigterweise fordert man (zumindest gelegentlich) strengere Kontrollen, Tests unter ‚realistischen‘ Bedingungen, Entschädigungen etc.
Mit Baudrillard lässt sich nun dieser Skandal (und mithin weitere Skandale im ökonomischen und politischen Kontext) einmal hinsichtlich seiner grundsätzlichen Funktion für die Stabilisierung von Ökonomie (und Politik) befragen. Baudrillard nimmt in die ‚Agonie des Realen‘ konkret Bezug auf Watergate und wir können an dieser Stelle und versuchsweise einfach einmal ein anderes Gate setzen:
„Die öffentliche Anprangerung des Skandals ist stets eine Huldigung an das Gesetz. Und mit Watergate [Dieselgate, R.H.] ist es vor allem gelungen, den Eindruck zu erwecken, daß es tatsächlich einen Skandal gegeben hat – in diesem Sinne war die Affäre eine ungeheure Vergiftungsoperation. Man hat der Gesellschaft wieder eine ordentliche Dosis politischer [ökonomischer, R.H.] Moral injiziert.“ (Die Präzession der Simulakra. In: Agonie des Realen, Merve 1978, S. 26f.)
Und weiter:
„Alles, was das Kapital von uns verlangt, ist, daß wir es für rational halten oder es im Namen der Rationalität bekämpfen, daß wir es für moralisch halten oder im Namen einer Moral bekämpfen. Denn im Grunde gibt es zwei Lesarten für ein und dieselbe Sache: früher bemühte man sich einen Skandal zu dissimulieren [zu verheimlichen, R.H.] – heute bemüht man sich zu verbergen, daß es keiner ist.“ (Die Präzession der Simulakra. In: Agonie des Realen, Merve 1978, S. 27f.)
In der Perspektive Baudrillards erscheint Dieselgate dann als ‚Falle‘, als ‚Ablenkungsmanöver‘, welche eine wirkliche / reale Moralität des Ökonomischen behauptet (oder einfordert), welche de facto sowieso nicht vorhanden ist. Skandale als Simulation ökonomischer Moral oder ökonomischer Rationalität.
Das Baudrillards These – vorsichtig formuliert – wenig optimistisch hinsichtlich der Möglichkeit der Veränderung ökonomischer Praktiken stimmt, sollte nicht dazu verleiten, diese vorschnell als überspitzt zu bezeichnen. Ist in Krisen- und Skandaldiskursen doch auch immer wieder die Rede von den Selbstheilungs- und Selbstreinigungskräften des Marktes, welche möglicherweise nichts weiter als die (im Sinne Baudrillards) Simulation und Unterstellung von Rationalität oder Moral anzeigen, welche nun bedauerlicherweise und gerade in dieser Krise suspendiert waren. In der düsteren (?) Lesart Baudrillards gibt es einfach nichts, was hätte suspendiert werden können.
Aber: Lässt sich Baudrillards These aus den 1970er Jahren im Hinblick auf die Phänomene des Whistleblowing der letzten Jahre so einfach übertragen? Woher kommt dann all die Energie, Whistbleblowing so energisch zu bekämpfen und deren Protagonist_innen ruhigzustellen? Und schließlich (und hierzu konträr): Bedarf es überhaupt noch dieser Logik und Funktion des Skandals? Zeigen nicht die Absatzzahlen von VW, dass ‚man‘ ‚augenzwinkernd‘ doch ‚eigentlich‘ sowieso Bescheid weiß?
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